Vor 40 Jahren ... (Juni 1983)
Hierzulande ist Portopia Renzoku Satsujin Jiken kaum bis gar nicht bekannt – das liegt nicht nur am langen japanischen Titel, der übersetzt The Portopia Serial Murder Case bedeutet, sondern auch daran, dass das Spiel nie woanders als in Japan oder in einer anderen Sprache als Japanisch erschien. Das ist für historisch interessierte Menschen wie uns bedauerlich, denn The Portopia Serial Murder Case ist ein für die Entwicklung der Spielegeschichte einflussreiches Spiel. Das 1983 von Yuji Horii entwickelte Spiel war einer der frühen Vertreter der Grafikadventures und festigte Konventionen des Genres.
The Portopia Serial Murder Case wird in der Ich-Perspektive erzählt, die verschiedenen Ereignisse werden mit Standbildern und Textausgabe beschrieben. Spieler interagieren mit dem Spiel über einen Verb-Nomen-Parser. In der Detektivgeschichte, laut Publisher Square die erste Detektiv-Adventure-Story, müssen Spielerinnen und Spieler in der fiktiven Hafenstadt Portopia den mysteriösen Mord an einem reichen Geschäftsmann aufklären. Dafür redet man Adventure-typisch mit verschiedenen Figuren, untersucht Gegenstände und besucht verschiedene Orte. Das Spielprinzip war besonders einflussreich für das japanische Visual-Novel-Genre. Zudem nennt der legendäre Spieleentwickler Hideo Kojima The Portopia Serial Murder Case als eines der Spiele, die ihn am meisten beeinflusst haben. Kojima sagt, er habe von Portopia die Möglichkeit der Dramatik in Spielen gelernt.
Hideo Kojima
Bis 2023 fristete The Portopia Serial Murder Case seine Zeit als Kleinod der Spielegeschichte; einflussreich, aber im Westen wenig beachtet. Das änderte sich, als Square Enix auf der diesjährigen Game Developers Conference eine 30-minütige Live-Demo eines KI-Rätselspiels vorstellte, die zeigte, wie „KI“-Technologie im Stil von ChatGPT Spiele verbessern kann, indem sie den Spielern mehr Kontrolle über ihre Äußerungen gibt und NSCs hat, die „intelligent“ auf Eingaben reagieren. Der Traum: weg vom Rätselraten, welches exakte Wort das Spiel hören will. Bei dem Rätselspiel handelte es sich natürlich um ein Remake von Portopia. Was spannend klingt, war leider ein Desaster: Die „KI“, also der Parser, ist immer noch genau so verbohrt wie 1983.
Die Steam-Rezensionen
Da es auf Steam oft Review-Bombing bei Spielen gibt, die zwar fehlerhaft sind, aber doch ganz gut laufen, wollte ich mir die Demo selber anschauen (die es übrigens kostenlos zum Download gibt). Vor allem, da sie die Möglichkeit versprach, Portopia heute zu erleben, ohne rar gesäte Fan-Übersetzungen zu testen. Zudem erschien Portopia zunächst nur für den japanischen NEC PC-6001, entsprechend schwierig ist es, eine frühe ROM von Portopia zum Laufen zu kriegen. Also fix bei Steam die Demo geladen.
Der „Endboss“ von Portopia: Alle Eingaben scheitern an unserem Assistenten.
Relativ unvermittelt wirft mich das Spiel nach einem kurzen Einleitungstext, der den Mord beschreibt, in ein Visual-Novel-typisches Interface. Ein junger Mann, der sich als mein Assistent vorstellt, kann mittels simpler Eingaben von Personen und Orten berichten, und ich kann ihn zum Herumfragen wegschicken. Wenn in seinen Berichten ein neuer Name oder Ort auftaucht, wird dieser in einer praktischen Liste rechts hinzugefügt. So weit, so gut. Die Qual beginnt, als ich versuche, einen anderen Ort aufzusuchen. Ich will zum Tatort, das wäre Yamakawa’s Mansion, das Heim des Toten Kozo Yamakawa. In meinen Versuchen, dahin zu reisen, lerne ich die drei Lieblingssätze meines Assistenten kennen: „I’m not sure what to say about that“, „Maybe we should focus on the task at hand?“, und besonders hilfreich: „Hmm…“. Okay.
Go to mansion.
Hmm…
Go To Yamakawa’s Mansion.
Hmm…
Unerwähnt bleiben hier hundert verschiedene Variationen, Abkürzungen, Synonyme, und so weiter. Helfen kann mir mein Assistent auch nicht, Eingaben wie „help” oder „what should I do” werden mit einem „Maybe we should focus on the task at hand?“ beantwortet. Ich versuche, mehr über die Figuren herauszufinden.
Tell me about Yamakawa.
„Maybe we should focus on the task at hand?“
JA DAS IST DOCH DER TASK! Das Mordopfer! Moment.
Tell me about Kozo.
„Kozo Yamakawa, head of Yamakin Loans. (...)“
Aha, das Spiel akzeptiert also den Vor-, aber nicht den Nachnamen. Ich habe fast das Gefühl, dass das 1983 besser funktioniert hat. Aber wie komme ich jetzt zum Tatort? Nach einer halben Stunde Herumprobieren bin ich mir fast schon sicher, dass das Spiel kaputt ist und jede Eingabe zu „Hmm…“ führt. Als ich das Spiel zum zehnten Mal neu starte und zum vierhundertsten Mal „Go to mansion” eingebe, funktioniert es plötzlich. Ich möchte gleichzeitig lachen und weinen. Endlich geht es weiter. Ich stehe vor Kozos Haus. Der Mord geschah aber im Arbeitszimmer.
Go to study.
Hmm…
Enter study.
I’m not sure what to say about that.
Nun, „examine study” hat das gewünschte Ergebnis gebracht, als sei das Arbeitszimmer ein Gegenstand vor meiner Nase. Um meiner Gesundheit Willen schließe ich an dieser Stelle das Spiel. Mit jeder Eingabe versucht diese Neuauflage von The Portopia Serial Murder Case den Spieler in den Wahnsinn zu führen.
Das Original aus dem Jahr 1983 sieht sehr charmant aus.
Einer der – zumindest popkulturell – einflussreichsten Arcade-Automaten wurde zum ersten Mal im Juni 1983 in den Vereinigten Staaten aufgestellt: Dragon’s Lair von Advanced Microcomputer Systems und Ex-Disney-Zeichner Don Bluth. Bis zum Ende des Jahres wurde Dragon’s Lair von Computerzeitschriften als das führende Arcade-Spiel der USA eingestuft, das durch seinen Erfolg auch dabei half, die Videospielkrise zu überwinden, die im Dezember 1982 mit E.T. The Extra-Terrestrial ihren Anfang nahm – schaut mal in die Zeitreise des Dezember-Newsletters. Aufgrund seiner Grafik wurde Dragon’s Lair als das wichtigste Spiel des Jahres 1983 gewürdigt. Die flüssigen und hochauflösenden Animationen im Disney-Film-Stil wurden vor allem im Vergleich mit den rudimentären Präsentationen anderer Spiele gelobt. Hinweg geschaut wurde dabei natürlich über das vergleichsweise sehr viel simplere Spielprinzip von Dragon’s Lair.
Der Held: Dirk the Daring
Das Spiel läuft auf Schienen, die Geschichte ist also vorgegeben, Spielerinnen und Spieler haben nur sehr begrenzten Einfluss auf ihren Verlauf. Das Spiel besteht fast ausschließlich aus animierten Zwischensequenzen. Man steuert die Handlungen der Spielfigur nicht direkt, sondern kontrolliert ihre Reflexe durch Quick-Time-Events, die das Drücken verschiedener Tasten am Automaten erfordern. Entsprechend unserer Reaktionsfähigkeit zeigen Full-Motion-Videosegmente das Ergebnis: Der Held zieht weiter, oder er stirbt. Wegen des einfachen Spielprinzips waren Spielhallen-Betreiber besorgt, dass die Kundschaft den Ablauf schnell durchschauen und das Spiel nicht mehr spielen würde. Dem Erfolg und der Faszination der Grafik tat dies keinen Abbruch: Bis Februar 1984 spielte Dragon's Lair über 32 Millionen Dollar ein (inflationsbereinigt 87 Millionen Dollar).
Ein Nachfolger wurde geplant, jedoch nie in die Realität umgesetzt. Dafür gab es zwei Gründe: Zum einen konnten Arcade-Betreiber mit der Zeit die abnehmende Beliebtheit von Dragon’s Lair beobachten, wenn Spieler wie befürchtet das Spiel auswendig lernten, und es entweder spielen konnten, ohne dem Betreiber viel Geld durch ständigen Münzeinwurf zu generieren, oder es gar nicht mehr spielten. Zum anderen war die Bauweise der Dragon’s Lair-Automaten viel fehleranfälliger als die anderer Arcade-Automaten. Das Spiel, das von einer LaserDisc gelesen wurde, zerstörte seine LaserDisc-Player binnen kürzester Zeit: Die Lesegeräte waren in erster Linie für die Wiedergabe von Filmen konzipiert, bei denen sich die Lasereinheit beim linearen Lesen der Daten allmählich über die Disc bewegte. Bei Dragon's Lair mussten jedoch je nach Spielverlauf alle paar Sekunden – in manchen Fällen sogar in weniger als einer Sekunde – verschiedene Filmsequenzen auf der Disc gesucht werden. Die hohe Anzahl der Suchvorgänge in Verbindung mit der langen Betriebsdauer des Geräts konnte dazu führen, dass der LaserDisc-Player nach relativ kurzer Zeit ausfiel. Dazu kam noch, dass die einseitig bespielte Disc auf der Rückseite mit Metall beschwert war, um Verbiegungen vorzubeugen. Das Gewicht übte zusätzlichen Stress auf die Player aus.
Die initiale Popularität von Dragon’s Lair führte auch zu einer TV-Animationsserie im Stil des Spiels. Vor jeder Werbepause steht die Hauptfigur Dirk the Daring vor einer brenzligen Situation. Ganz im Sinne des Spiels erzählt der Erzähler Dirks Optionen und fragt den Zuschauer: „Was würdest du tun?“ Nach der Werbepause wurden die Ergebnisse der verschiedenen Möglichkeiten gezeigt. Wer die Netflix-Serie Stranger Things gesehen hat, erinnert sich sicher auch an die prominente Platzierung des Spiels zu Beginn der zweiten Staffel, als Rotschopf Max die Arcade dominiert.
Vor 30 Jahren … (Juni 1993)
Seit Populous, das 1989 erschien, machte sich das Entwicklerstudio Bullfrog Productions als innovatives und experimentierfreudiges Studio einen Namen. Unter der Leitung des legendären Peter Molyneux entstanden Spiele, die ihresgleichen suchten und mit frischem Gameplay und wilden Genremixen andere Entwickler inspirierten und ganze Gattungen etablierten. Dank Populous war der Begriff „Göttersimulation“ en vogue, dessen Genre Molyneux 1997 mit Dungeon Keeper mit Echtzeit-Strategie und einem parodistischen Anstrich versah. Magic Carpet (1994) vermischt den Aufbau-Gedanken mit einer Flugsimulation, Theme Park (1994) erschafft das Sandbox-Prinzip. In vielen dieser Produktionen hat der Spieler die ultimative Macht über Länder, Gebiete, und ihre Bewohner. Die zynischen Molyneux-Werke lassen den Spieler dabei nicht nur die guten Seiten des Götterdaseins ausleben, sondern bieten auch die Möglichkeit, Chaos zu stiften. Auf die Spitze treibt Bullfrog die Idee des bösen Herrschers in Syndicate, das vor genau 30 Jahren im Juni 1993 erschien.
Peter Molyneux
Syndicate entführt uns in eine beklemmende Zukunft, in der Megakonzerne die Welt beherrschen und skrupellos um Macht und Kontrolle kämpfen. Als Spieler und Syndikats-Boss kontrolliert man die Agenten einer dieser Organisationen, die ihre Aufträge ohne Rücksicht auf Verluste erfüllt. Syndicate brach die Grenzen moralischer Vorstellungen, indem der Spieler selbst rücksichts- und gewissenlos Zivilisten Gehirnwäschen unterzieht, sie eliminiert oder erpresst.
Wie andere Bullfrog-Spiele zeichnet sich Syndicate durch sein innovatives Gameplay aus. Spieler steuern ein Viererteam von Cyborg-Agenten, die mit einer Vielzahl von Waffen und Implantaten ausgestattet sind. Taktische Planung in den Missionen ist Pflicht, um die bockschweren Levels durchzustehen. Auch in Syndicate kann der Spieler göttergleich unschuldige Zivilisten übernehmen und kontrollieren, hier möglich gemacht nicht durch göttliche Kräfte, sondern durch allgegenwärtige Chip-Implantate, die die Bevölkerung unterjochen. Apropos schwer: Nicht immer war das Erfüllen der Missionsziele das Problem, sondern das Heimbringen der Agenten. Wenn das Team nur knapp die Mission überstand, wussten Spieler schon, dass sie wahrscheinlich dank Hinterhalte auf dem Rückweg ihre Agenten doch noch verlieren würden.
Die Agenten sind auf dem Rückweg.
Auch der Simulations-Aufbau-Teil durfte bei Syndicate nicht fehlen: Zwischen den Missionen verdienen erfolgreiche Syndikats-Chefs Geld durch Steuergelder, die sie in die Forschung und Entwicklung neuer Waffen und Cyborg-Upgrades stecken. Die Steuern kommen aus den in Missionen eroberten Gebieten, zu hoch besteuerte Gebiete können rebellieren, was zum Verlust des Gebiets führt und eine Wiederholung der Mission erfordert.
1996 erschien ein gefloppter 3D-Nachfolger namens Syndicate Wars, 2015 konnten sich Fans über einen geistigen Nachfolger, Satellite Reign, freuen, der von Mike Diskett entwickelt und via Crowdfunding finanziert wurde. Mike Diskett, der an der Entwicklung von Syndicate beteiligt war und die Portierung auf verschiedene Systeme leitete, hing immer noch am Originalspiel und ärgerte sich über das Reboot von Syndicate 2012 als Shooter, sodass er in Eigenregie das Spielprinzip von Syndicate wieder aufleben ließ. Das kam gut an: In der GameStar vergab Martin Deppe 83 Punkte. Sein Fluchen über die schwierigen Missionen zeigt, dass Mike Diskett verstanden hat, was Syndicate ausmacht.
Satellite Reign von Mike Diskett