Als Sierra On-Line in den 80er-Jahren den amerikanischen Heimcomputer-Markt zu dominieren beginnt, da findet sich im Portfolio zwischen Dutzenden von Adventures nur ein einziges Sportspiel: Sierra Championship Boxing von 1983. Erst als der Konkurrent Electronic Arts Anfang der 90er mit der John Madden-Reihe sensationelle Erfolge feiert, steigt auch Sierra ins Sport-Business ein. Fortan erscheinen unter der Marke Front Page Sports jährliche Football- und Baseball-Spiele, später kommen Golf, Abfahrtslauf und Sportangeln dazu, überwiegend produziert von den Sierra-Tochterfirmen Dynamix und Synergistic Software. Im Zuge diverser Verkäufe und Umstrukturierungen wird aus Front Page Sports ab 1998 Sierra Sports – Firmengründer Ken Williams ist da schon raus, Sierra stehen noch ein paar turbulente Jahre bis zum Untergang bevor.
Währenddessen kristallisiert sich ab 1997 ein neues Marktsegment im US-Geschäft heraus: Der fulminante Erfolg von Wizardworks‘ simpler Reh-Ballerei Deer Hunter führt zu einer Schwemme billig produzierter Titel, die als Mitnehm-Ware in großen Hochglanz-Packungen in landesweiten Ladenketten wie Walmart und K-Mart verkauft werden. Primäre Zielgruppe: die (Land-)bevölkerung der Südstaaten. „Bubba Games“ nennt die Spielezeitschrift Computer Gaming World das Genre, in dem US-Publisher nun nach Themen aus dem Redneck-Lifestyle fischen, vom Luftgewehrschießen über die Entenjagd bis hin zu Monster Trucks. Vorne mit dabei ist die Firma Head Games aus Minnesota, die Anfang 1999 ihrem Portfolio an „Extreme“-Sportarten den Titel Extreme Bullrider hinzufügt. Das Online-Magazin IGN urteilt: „Dieses Spiel stinkt schlimmer als ein Kuhfladen und macht in etwa so viel Spaß, wie in einen reinzutreten.“
Die Latte im überschaubaren Segment der Bullenreitsportspiele liegt also nicht allzu hoch, als Sierra im gleichen Jahr ebenfalls dort einsteigt. Professional Bull Rider ist mit Sicherheit der überraschendste Eintrag in der durchaus ernsthaften Sierra Sports-Reihe, zumal Sierra mit All-American Sports parallel ein eigenes Ramsch-Label besitzt. Aber dort gehört Professional Bull Rider auch gar nicht hin. Sierras Anspruch und Marketing-Power heben das Spiel in eine ganz eigene Kategorie: Es ist Edel-Ramsch.
Das beginnt schon bei der Packung. Vornedrauf klammert sich der siebenfache Champion Ty Murray mit aller Kraft an einen rasenden Bullen, während der Hintergrund von einer riesigen Explosion zerrissen wird; sicher eine Momentaufnahme aus einer typischen Bullriding-Veranstaltung. Hintendrauf schreit die Packung: „Und du dachtest, nur Kinder fressen Dreck!“ – ich gebe zu, da hatten sie mich.
Zwar habe ich keine Ahnung vom Bullen-Reitsport, aber das ist schnell behoben: Acht Sekunden lang muss sich der Cowboy auf einem wild springenden, ausschlagenden und rotierenden Stier halten, dann wird seine Leistung von Punktrichtern beurteilt. Bis zu 100 Punkte gibt’s für Technik und Eleganz, reines Oben-bleiben genügt nicht für Höchstwertungen. In der Geschichte des Sports schaffte bislang nur ein Mann die perfekte 100, Wade Leslie im Jahr 1991. Alles über 90 gilt als hervorragende Leistung. Nicht nur der Reiter bekommt Punkte, sondern auch der Bulle, der möglichst wild und fintenreich toben sollte.
Nun sind acht Sekunden nicht besonders lang; die Leistung von Mensch und Tier verdichtet sich auf einen extremen Moment, und wie jede Extremsportart flirtet auch das Bullenreiten mit der Gefahr. Mindestens 21 Reiter wurden seit 1989 von Stieren getötet, Verletzungen sind an der Tagesordnung. PBR-Profis führen Listen über die Anzahl ihrer Gehirnerschütterungen. „Der einzige Sport, in dem die Teilnehmer Nummern tragen, damit die Leiche leichter identifiziert werden kann!“, schnappt der Packungstext von Professional Bull Rider nach Luft, im Intro-Video werden schon mal die Krankentragen bereit gemacht, und nach dem unvermeidlichen Abwurf kommt im Spiel der „Scramble“-Part: die Flucht vor dem Tier, das den Reiter jetzt gern zu Matsch trampeln würde.
Klappern gehört hier zum Handwerk, aber dieses Handwerk nimmt Sierra ernst. Professional Bull Rider heißt so, weil es – wie jedes vernünftige Sportspiel – lizenziert ist, und zwar von der PBR, einer von mehreren US-Bullenreitligen. Die steuert wiederum zwei ihrer Stars bei, die dem Spiel ihr Gesicht leihen. Der Mann auf dem Titel, Ty Murray, hat zu dem Zeitpunkt schon sieben Meisterschaften gewonnen; seine Strategie fasst ein Kommentator anlässlich eines 90-Punkte-Ritts auf Little Yellow Jacket ehrfürchtig zusammen: „He just gets on and rides!“ Im Meisterschaftsjahr 1999 landet Murray nur auf Platz 2 hinter Cody Hart, der PBR-Champion wird, obwohl ihm beim Turnier in Nevada der Bulle „High Rise“ mit den Hinterhufen einen mitgibt und er sich beim Aufprall im Sand den Schädel aufreißt. Acht Mann müssen ihn auf der Trage aus der Arena hieven, während seine Frau konsterniert zusieht, was der Fernsehmoderator texanisch kommentiert: „Mrs. Cody Hart, she‘s no fan of this part of bullridin‘.“ 2008 heiratet Ty Murray die Sängerin Jewel, die ihn 2014 wieder abwirft – metaphorisch gesprochen natürlich, in Form der Scheidung.
Ty Murray bringt uns bei, wie man auf einem wilden Bullen draufbleibt.
Star Nummer 2 ist Richard „Tuff“ Hedeman, mehrmaliger Weltmeister und Vorsitzender der PBR, der einerseits 1993 als erster Profi-Bullenreiter die Marke von einer Million Dollar eingesammelter Preisgelder knackt. Andererseits schafft er es, sich 1995 von Bodacious, dem „gefährlichsten Bullen aller Zeiten“, das Gesicht zertrümmert zu lassen; mehr als 13 Stunden Operation und sechs Titanplatten brauchten die Ärzte, um sein Antlitz wiederherzustellen. Aber Hedeman lebt noch, während Bodacious ein Jahr nach dem Erscheinen von Professional Bull Rider verstarb. Ein Zusammenhang wird nicht vermutet.
Murray und Hedeman führen Spieler von Professional Bull Rider in einem guten Dutzend kurzer Erklär-Videos in die Taktiken des Bullenreitens ein; dazu gibt’s eine Handvoll berühmte Ritte der beiden als Film-Einspieler. Das ist zwar etwas steif, aber inhaltlich durchaus okay, und vor allem zeigt es Sierras Anspruch, das Spiel mit Material und Inhalten zuzubomben. Vom Intro bis zur Post-Credits-Szene strotzt Professional Bull Rider vor atmosphärischen Videos, im Spiel ballert Country-Musik, Ritte und Turniere werden vom Profi-Ansager Justin McKee kommentiert, die Werbetafeln in den Arenen sind zugekleistert mit den Logos von einem halben Dutzend Sponsoring-Partnern, auf der CD-ROM liegt noch ein Bildschirmschoner als Bonus. Das Spiel unterstützt lokalen Multiplayer ebenso wie Online-Turniere über Sierras WON-Plattform. Und vor allem: Man kann nicht nur den Cowboy spielen, sondern auch den Bullen.
„Tuff“ Hedeman erklärt, wie es ist, ein Bulle zu sein.
Das ist eine beeindruckende Vielfalt für ein Spiel, das im Kern aus acht Sekunden plus Wegrennen besteht. Fehlt eigentlich nur, dass man auch den Typen im Fransenhemd spielt, der den Bullen vom abgeworfenen Reiter weglockt. Doch auch wenn Professional Bull Rider diesen sportlichen Kern in fürs Jahr 1999 völlig okayer 3D-Grafik präsentiert (kein Vergleich zum potthässlichen Konkurrenzen Extreme Bullrider), so fragt man sich doch, ob hier nicht das Spiel das Beiwerk ist.
Um das herauszufinden, baue ich mir meinen eigenen Reiter für den Karriere-Modus: Gunnar Bullenmoerder, noch leidlich rüstiger Wildwest-Veteran, der in der Steppe Niedersachsens schon als Kind Büffel erwürgt hat. Dann die erste Enttäuschung: Das Spiel lässt mich kein Geburtsjahr vor 1950 wählen. Immerhin kann ich Gunnar schon 1950 in die PBR eintreten lassen, quasi als erste Amtshandlung nach der Geburt, und das 42 Jahre vor deren Gründung! Als Zeichen seiner irischen Herkunft bekommt Gunnar einen roten Schnauzer und grüne Klamotten, dann kann die Meisterschaft beginnen.
Beim Saison-Auftakt in Louisville wird Gunnar zwar schon nach vier Sekunden abgeworfen, bekommt zum Abschluss aber noch den Stierkopf in den Magen gerammt, woraufhin er sich sanft im Sand der Arena zusammenrollt. In Reno fällt er flach aufs Gesicht, der Bulle Armageddon dreht noch eine Runde über seinen Rücken, bekommt dafür aber leider nur 67 Punkte. In Nashville tritt ihn Babyface in hohem Bogen durch die Arena, es gibt freundlichen Applaus für die Gesichtsbremsung. In Spokane renkt er sich den rechten Daumen aus und muss eine Woche aussetzen. In Phoenix hält sich Gunnar völlig überraschend acht Sekunden auf dem Rücken von Hawkeye und kassiert respektable 78 Punkte. In Guthrie köpft ihn dann Hard Copy in einem spektakulären Abgang über die Absperrung.
So geht das weiter, und ich merke: Das ist ein hartes Brot, dieses Bullenreiten, trotz der simplen Steuerung. In vier Richtungen die Balance ausgleichen, Tasten fürs Festhalten und Sporengeben, das war’s schon. Aber den wild herumbockenden Bullen zu lesen, das braucht „viel Übung“ (Ty Murray) oder halt eine bessere Spielmechanik, mir gelingt es jedenfalls nicht. Spaß will sich nicht einstellen, aber als Solo-Spiel war Professional Bull Rider vielleicht auch gar nicht gedacht: Sein Killer-Feature ist der Koop-Modus, wo ein Spieler den Reiter übernimmt und der zweite den Bullen. Acht Sekunden intensive Rivalität, dann Handschlag, Bier und Barbecue – so stelle ich ihn mir vor, den amerikanischen Traum.
Abflug!
Ist Professional Bull Rider ein gutes Spiel? Die Packung sagt ja, die amerikanische Spielepresse nein. Es steht Aussage gegen Aussage. Sierra jedenfalls legt nochmal nach, ein Jahr später erscheint Professional Bull Rider 2. Vornedrauf ist wieder Ty Murray, diesmal schlägt hinter ihm der Blitz ein; vielleicht ist sein Bulle deshalb so aufgebracht. Ansonsten hat sich nicht viel geändert, wie Gamespot feststellt: „Das Spiel benutzt die gleichen Grafiken, Musiken, Kommentare und Mechaniken wie sein Vorgänger.“ Eine Neuerung gibt’s dann aber doch: Man kann nun auch den Typen im Fransenhemd spielt, der den Bullen vom abgeworfenen Reiter weglockt.
Damit ist der Sport endlich vollständig und abschließend simuliert.