Am 8. Januar 2011 postet ein Nutzer des Tweak-3D-Forums Bilder von einem Spiel, das er kurz zuvor in einem Second-Hand-Laden der Heilsarmee entdeckt hatte. Die Box sagte ihm nichts, wohl aber der Name, der darauf steht: Commander Keen – der Jump-and-Run-Held, mit dem die Doom-Macher von id Software ihre ersten Erfolge feierten. Doch einiges an dieser Ausgabe erscheint seltsam. Auf dem Cover ist kein Keen abgebildet, sondern ein Astronaut, in der Packung liegt nichts außer einer einzelnen CD, und auch der vollständige Name macht stutzig: Commander Keens Trek 96. Als der Nutzer auf die CD schaut, entdeckt er darauf ein krudes Star-Trek-Spielchen namens Trek 96 ohne jeden Bezug zu Commander Keen. „Ich bin baff, dass hier Kunden mit dem Namen Commander Keen getäuscht werden, um ihnen ein Star-Trek-Spiel zu verkaufen“, schäumt der Nutzer.
Es ist nur der Auftakt zu einem der ungelösten Rätsel der Spielegeschichte. Denn offenbar tauchen um die Jahre 2010/2011 herum in Second-Hand-Läden in den USA ein Schwung Commander Keens Trek 96-Boxen auf; im April berichtet ein Nutzer des Retrogaming-Roundtable-Forums, sein örtlicher Gebrauchtwarenladen habe „einen Riesenhaufen“ davon herumliegen. Alle sind sie originalverschweißt. Und es gibt noch mehr Varianten als nur Commander Keen: Jazz Jackrabbit’s Poker Broker zum Beispiel, in Anspielung auf Epic Megagames‘ Cartoon-Hasen. Oder eine Packung, die den gleichen Namen trägt wie Epics Jump-and-Run-Heldin Jill of the Jungle. Oder Pickle War’s Doom, in dessen Titel gleich zwei Shareware-Serien verschmelzen, das eher obskure Pickle Wars und id Softwares Shooter-Knaller Doom.
Alle diese Schachteln verwenden die Namen beliebter Shareware-Serien. Keine enthält das, was sie verspricht. Und niemand weiß, wo sie herkommen.
Zwar gibt es auf den Packungen Herstellerangaben, aber selbst die sind verwirrend: Das Copyright datiert die Ausgaben auf das Jahr 1997 und schreibt sie einem Publisher namens Cyberdigital zu. Daneben steht ein Logo für eine Firma namens „Cyber.ex“. Und auf der CD-ROM von Jazz Jackrabbit’s Poker Broker ist von einer „Digital Design Development, Inc.“ die Rede. Alle drei Firmen wurden im März und April 1997 in Los Angeles gegründet; die Digital Design Development schaffte noch nicht mal die erste Hürde und wurde vom kalifornischen Ordnungsamt zwei Monate später wieder aufgelöst, weil der 725-Dollar-Scheck für die Anmeldegebühr geplatzt war. Ihre Schwesterfirma Cyberex Technology Inc. existierte immerhin rund ein Jahr lang. Am langlebigsten war die dritte im Bunde, Cyber USA Inc., die bis Mai 2000 durchhielt; vermutlich ist es diese Firma, die auf den Packungen als Cyberdigital firmiert. Alle drei Firmen wurden über Bevollmächtigte angemeldet, sodass unklar bleibt, wer dahinter steckt.
Die Packungen selbst enthalten keine Kontaktdaten, keine Adresse, keine Namensnennungen; ein Handbuch gibt es sowieso nicht, und in den Dateien auf den CDs sind keine Hinweise zu finden. Die Spiele sind aufs Krudeste zusammengekloppt: dünne Pappe, keine Beigaben, laienhafte Packungsmotive, zahlreiche Rechtschreibfehler. Aus „Jazz Jackrabbit“ wird auf der dazugehörigen CD-ROM „Jazz Jack Rabit“, Commander Keens Trek 96 fehlt der Apostroph. Und was sich auf den jeweiligen CDs befindet, sind frei verfügbare Shareware- oder Freeware-Spiele, worüber die Verpackungen jedoch kein Wort verlieren.
Es ist also eine einigermaßen dreiste Mischung aus Urheberrechtsverletzung und Etikettenschwindel, denn mit Sicherheit steckt Absicht hinter dem Täuschungsversuch. Ob aber wirklich jemand zu Schaden kam, darf bezweifelt werden. Denn es sieht so aus, als wären die Spiele nie in den Handel gelangt. Weder auf der Packung noch auf der Klarsichtfolie der Boxen finden sich die für den Verkauf in Läden notwendigen Barcodes. Zudem lässt sich keine Erwähnung auch nur eines der genannten Spiele vor dem Jahr 2011 ausfindig machen, als die ersten Foren-Nutzer von ihren Second-Hand-Funden berichten. Es liegt nahe, dass die CDs und Schachteln zwar produziert und verpackt, aber nie ausgeliefert wurden. Vermutlich verstaubten sie über mehr als ein Jahrzehnt in einem Lager, bis sie dort aufgelöst wurden und ihren Weg in den Gebrauchshandel fanden. Was aber natürlich das Mysterium nur vergrößert: Wenn offensichtlich schon Geld und Aufwand in die Masche geflossen sind, warum das Ganze dann nicht durchziehen?
Ich kann den Fall nicht auflösen, aber ich kann ihm eine Facette hinzufügen. Dass sich hinter Commander Keens Trek 96 ein Star-Wars-Spiel verbirgt und hinter Jazz Jackrabbit’s Poker Broker das simple Shareware-Pokerspiel Poker Broker 3.0, ist seit geraumer Zeit bekannt, spätestens seit dem unterhaltsamen Lazy Game Reviews-Video von 2017. Aber welches Spiel steckt in der Packung von Jill of the Jungle? Ich habe online keine Spur entdeckt, dass irgendwer diese Frage schon mal beantwortet hätte. Weil ich unlängst für 37 Dollar eine originalverschweißte Version aus den USA gekauft habe, habe ich die nun geöffnet.
Auch diese Schachtel enthält nichts außer der CD-ROM in einer Papphülle; darauf findet sich eine Readme-Datei, die in ihrer Gesamtheit lautet:
Each direct hit on Jill of the Jungle pushes him back to the dreaded hook, which could snatch him from the stage at any time.
Has Muppet soundtrack and sound effects.
Runs on Windows 95.
Moment, „him“? Muppet-Soundeffekte? Ja, denn Star des Programms ist nicht etwa Jill, sondern Fozzie-Bär aus der Muppet-Show, der auf eine Bühne zu gelangen versucht, während er aus dem Publikum mit Gemüse und Schuhen beworfen wird. Wir verhindern das, indem wir die Wurfgeschosse in Moorhuhn-Manier rechtzeitig abschießen. Ich denke, es genügt, wenn ich an dieser Stelle sage: Das ist Trash.
Und zwar Trash aus einem kommerziellen Programm. Denn „Fozzies Wocka on the Wild Side“ ist eines von sieben Minispielen aus der 1996 erschienenen The Muppet CD-ROM: Muppets Inside von Starwave, einer offiziell lizensierten Software zu den Muppets. Starwave hat eines dieser sieben Spiele – eben jenes mit Fozzie – als Demo veröffentlicht. Und diese Demo wiederum haben Cyberdigital, oder Cyberex, oder Digital Design Development oder wie sie eben hießen, auf ihre CD gepackt; aber nicht, ohne vorher den Dateinamen in „JILLOF~1.EXE“ zu ändern und aus der umfangreichen Readme, die der Demo beilag, alle Sätze bis auf die oben zitierten zu löschen. Wobei aus „Fozzie“ eine „Jill of the Jungle“ wurde, aber aus dem „him“ kein „her“ mehr.
In seiner Hingerotztheit hat das alles schon wieder einen gewissen Charme. Ich wüsste deshalb zu gerne die ganze Geschichte, die hinter diesen Produkten steckt (von denen es mindestens sechs Stück gab; neben den genannten hat Cyberdigital auch noch „Word Gallery: Hangman“ und „VGA Color Book“ veröffentlicht, die aber ohne Shareware-Namensklau). Ob wir das jemals erfahren werden, ist zweifelhaft. In meiner Sammlung haben sie jedenfalls einen Ehrenplatz in der Kategorie „Gaunereien“.